Konfirmation im Jahr 1956
Pfarrer Eckhart Marggraf, Jahrgang 1941, war von 1972 bis 2001 im Religionspädagogischen Institut der Evangelischen Landeskirche in Baden tätig, zuletzt als dessen Leiter. Der gebürtige Handschuhsheimer wurde 1956 in der Friedenskirche konfirmiert. Während seiner Jugendjahre erlebte er in der Gemeinde und im Ort eine Atmosphäre, die nicht nur bei ihm, sondern auch bei etlichen anderen die Lust daran weckte, Theologie zu studieren.
Von Eckhart Marggraf
Die große Zahl war für diese Generation Gewohnheit. In der ersten Klasse waren wir 51, aber es gab nur 50 Plätze im Alten Schulhaus in der Kirchgasse. Im Kindergottesdienst kamen oft an die 300 Kinder zusammen, sodass ich als Kindergartenkind lieber nach Neuenheim in den etwas „gesitteteren“ Gottesdienst mit der separaten „Lämmergruppe“ für die Jüngsten ging. Die „Gruppenunterweisung“ fand nach Schulklassenstufen statt. Die Gruppen verteilten sich über die ganze Friedenskirche einschließlich der Emporen. Hier wurde der damalige Theologiestudent Helmuth Vaupel mein bewunderter Katechet.
Was für eine Generation!
Was für eine Generation! Noch hatte das „Wirtschaftswunder“ sich nicht voll ausgewirkt, wenngleich das Wirtschaftswachstum im Jahr 1955 12 Prozent betrug. Mindestens zwei Drittel des Budgets einer Familie wurden für Nahrung, Wohnung und Kleidung benötigt. Autos begannen die Straßen zu beherrschen. „Freie Zeit“ wurde überwiegend im Familienkreis verbracht. Bis in die sechziger Jahre war das Radio Mittelpunkt des Feierabends. 1957 gab es erst eine Million Fernsehhaushalte. Zeitungen und Illustrierte waren verbreitet. Kino („Heimatfilme“) und Sport kamen hinzu. 80 Prozent eines Jahrgangs besuchten die Volksschule. 5 Prozent machten Abitur und nur 3 Prozent der Abiturienten stammten aus der Arbeiterschicht. Die soziale Spaltung der Gesellschaft in oben und unten war auch in Handschuhsheim unübersehbar. Das galt in und zwischen den beiden Pfarreien von Handschuhsheim noch einmal in besonderer Weise und reichte bis in die Zusammensetzung der Gottesdienstbesucher je nach Prediger. Landwirtschaft und Gärtnereien bestimmten weiterhin das Ortsbild. Auch in der Pfarrgasse sah man noch die Pferdefuhrwerke aufs Feld in den Klausenpfad hinausfahren.
Viele Konfirmanden wuchsen vaterlos auf, waren mit ihren Eltern geflüchtet, wohnten beengt. Zwar war Heidelberg von Bomben verschont geblieben, aber viele Häuser und ganze Wohnblocks waren von den Amerikanern besetzt. Der Bauboom hatte gerade eingesetzt und überall waren Zeichen einer rasanten gesellschaftlichen Veränderung zu spüren. Die Rollen der Frau und der Familie begannen sich erkennbar zu verändern. 1957 wurde das Gleichberechtigungsgesetz beschlossen, das unter anderem das alleinige Entscheidungsrecht des Mannes bei der Berufstätigkeit der Frau oder in Vermögensfragen beendete. Im selben Jahr bekam ich die gerade erschienene Dokumentensammlung zum Nationalsozialismus, die Walther Hofer zusammengestellt hatte, geschenkt mit der Widmung: „Vergangen ist nicht ungeschehen – wie viele meinen…“ Das ist mir zum Lebensthema geworden.
Mit Gehrock und Zylinder
Noch aber bestimmte eine traditionelle Kirchlichkeit das öffentliche Leben. An Karfreitag und am Buß- und Bettag waren die beiden Gottesdienste am Morgen und am Abend in der Friedenskirche bis zum letzten Platz besetzt. Sonntags füllten die Konfirmanden im Gottesdienst die Nordempore. Ihnen gegenüber saßen die Internats-Schüler des Friedrich-Stifts in der Bergstraße, die von ihrem Rektor Otto Löffler geschlossen zum Gottesdienst geführt wurden. Und dann gab es damals ja im Anschluss an die Konfirmation die zweijährige Christenlehre. Wenn Karlheinz Schoener predigte,war der Gottesdienstbesuch sogar stärker als sonst. Noch bestimmte die mittige Anordnung von Altar, Kanzel und Orgel das Bild der nach dem „Wiesbadener Modell“ in einem historischen Mischstil erbauten, rund 1200 Plätze umfassenden Kirche. Die beiden Kirchendiener trugen Gehrock, wenn sie an langen schwarzen Stangen die Klingelbeutel in die Reihen der Gottesdienstbesucher hineinschoben. Gehrock, aber vor allem der steife Zylinder, waren selbstverständlich Bekleidung der Männer bei Beerdigungen wie auch das Schwarz bei der Teilnahme am Abendmahl, das nur als getrennter Gottesdienst an den Hauptgottesdienst angehängt an wenigen Sonn- und Feiertagen im Jahr gefeiert wurde. Noch gab es zwei Liedtafeln für das alte badische Gesangbuch und das 1950 eingeführte „Neue“ EKD-weite Gesangbuch.
Kleidung war noch Mangelware. Im Schwesternhaus an der Tiefburg gab es Nähkurse, die vor allem der Änderungsschneiderei zugute kamen. So war auch mein Konfirmandenanzug irgendein Erbstück, das passend gemacht werden musste. Meinen ersten neuen Anzug konnte ich mir erst beim ersten Examen kaufen. Wir waren Flüchtlinge, die das Glück hatten, bei den Großeltern unterkommen zu können, denen dadurch die „Zwangsraumbewirtschaftung“ erspart blieb.
Wettbewerb im Auswendiglernen
Kaum etwas ist mir vom Konfirmandenunterricht geblieben: Die langen Tischreihen, wo wir nach dem Alphabet aufgereiht hintereinander saßen. Abhören des Auswendiggelernten, der bisweilen sarkastische Humor des Pfarrers, der einen bloßstellen konnte, dem man aber angesichts der absoluten Autorität wehrlos ausgesetzt war. Immerhin bemühte er sich um die Form eines fragend-entwickelnden Unterrichts. Doch er stachelte auch den Wettbewerb an, wer am besten die drei Erklärungen Luthers zum Glaubensbekenntnis und die Antwort auf die erste Frage des Heidelberger Katechismus („Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“) aufzusagen vermochte. Hängen geblieben ist mir die Antwort auf die Frage „Wie lernen wir Gott kennen?“mit ihrer damals in der theologischen Diskussion heftig umstrittenen Antwort: „Wir lernen Gott kennen durch seine Offenbarung in der Natur, in der Geschichte der Menschen und in unserem Innern; ganz besonders aber in der Heiligen Schrift.“ Entsetzt war ich über die Einführung ins Abendmahl, bei der Schoener voller Ironie eine Theatervorstellung inszenierte und einübte. Noch wurde in Handschuhsheim das Abendmahl als Wandel um den Altar von den Schranken an der Brotseite zu den Schranken der Weinseite jeweils in Vierergruppen gefeiert. Die Entdeckung des Gemeinschaftscharakters war noch nicht vollzogen.
Weltoffenes Christentum mit kritischer Sicht auf Gesellschaft und Politik
Nachhaltiger als der Konfirmandenunterricht waren für mich ohne Zweifel das Singen in der Kurrende bei Erich Hübner mit regelmäßigem Mitwirken in den Gottesdiensten oder der Extra-Chor bei Meinhardt Poppen, mit dem die Sextaner-Knaben bei der Aufführung der Matthäus-Passion in der Peterskirche mitwirken durften. Ebenso wirkte die lebendige Jugendarbeit vor allem durch die gerade neu gebildete Jungenschaft, die sich der bündischen Jugendtradition angeschlossen hatte. Aber vor allem war es die anregende Umgebung im Großelternhaus, die bei mir längst den Wunsch geweckt hatte, Pfarrer werden zu wollen. Der Großvater, Religionslehrer im Ruhestand, hatte uns schon früh biblische Geschichten anhand großer Meisterwerke der Kunst erzählt. Als Vademecum hatten wir das aus Bayern stammende „Gottbüchlein“ und dann in der Schule Jörg Erbs „Schild des Glaubens“ mit den Zeichnungen von Paula Jordan bei uns. Den Großvater begleiteten wir zu seinen Gottesdiensten als Seelsorger des Altenheims St. Anna in der Plöck. Nach der Schule holten wir für ihn in der Evangelischen Buchhandlung in der Hauptstraße die „Neue Zürcher Zeitung“ ab, die er sich mit dem Buchhändler Comtesse teilte. Bei Besuchen in Handschuhsheim an seiner Seite zu sein, war immer ein Erlebnis. Das Spektrum reichte vom Landwirt Spar im Klausenpfad bis zum Besuch beim emeritierten Alttestamentler Gustav Hölscher im arabischen Fastnachtskostüm, der mir den Gruß „Salem aleikum“ beibrachte.
Als 1954 Günther Bornkamms Jesus-Buch erschienen war, wurde daraus zuhause vorgelesen. Ein Jahr später erzählte der Großvater von Dietrich Bonhoeffers Gefängnisbriefen, die gerade veröffentlicht worden waren. Zur Konfirmation erhielt ich von einer Frankfurter Patentante ein Abonnement der „Stimme der Gemeinde“, dem Blatt des „linken“ Flügels der Bekennenden Kirche, und lernte so nicht nur Martin Niemöller kennen, der wenig später bei den ersten Demonstrationen zum „Kampf gegen den Atomtod“ auf dem Heidelberger Messplatz am Neckar zu erleben war, sondern auch Gustav Heinemann und Helmuth Gollwitzer, den spät aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Schüler Karl Barths. Ein weltoffenes Christentum mit einem guten Stück kritischer Sicht auf Gesellschaft und Politik waren der Nährboden, hinter dem Konfirmandenunterricht und Religionsunterricht blass blieben.
Bunte Welt in der Friedenskirche
Der Freund des Großvaters seit Kindertagen in Gernsbach und unmittelbare Nachbar Hermann Maas, den wir „Onkel Hermann“ nannten – damals Prälat und zahllosen Juden Retter und Helfer während der Nazizeit –, schenkte mir sein Israelbuch „Und will Rachels Kinder wieder bringen“ mit einer schönen Widmung in seiner großen gezierten Schrift. Aufgrund der Berichte von seinen Israel-Reisen konnten wir etwas erahnen von dem „Wunder“ nach der Shoah. In der Nachbarschaft lebten Menschen, von denen wir wussten, dass sie der Ermordung nur glimpflich entkommen waren: die Kinderärztin, die uns behandelte, die Lehrerin, die gegenüber wohnte, die Leiterin des Gemeindedienstes, die einige Straßen weiter mit der betagten Mutter lebte. Ein Jahr danach beerdigte Maas den geliebten Großvater, mit dem er Postkarten in lateinischer Sprache austauschte. Sie begannen häufig mit der Anrede: „Carissime!“. Wie die spannenden Begegnungen bei Gängen mit dem Großvater durch den Ort, bei denen wir Enkel den angeregten Gesprächen der Erwachsenen lauschten und staunten, wie der alte Religionslehrer Kontakte auch zu seinen früheren Schülern über die ganze Stadt verstreut hielt, so wurden wir Enkel als Briefträger durch den Ort geschickt und kamen in viele Häuser und Familien. Diese bunte Welt spiegelte sich am Sonntag in den Gottesdienstbesuchern in der Friedenskirche. Auf der Bank der Ältesten saß dann auch der Kirchengemeinderat Bechtel aus der Friedhofstraße, der Vater des späteren Prälaten Gerhard Bechtel, der unter der Woche in strammer Uniform mit goldenen Sternen geziert den Einsatz der Straßenbahn am Bismarckplatz koordinierte.
Es waren viele Handschuhsheimer, die in dieser Atmosphäre Lust bekamen, Pfarrer zu werden. Ich nenne nur Ernst Baier, Gerhard Bechtel, den späteren Landesbischof Klaus Engelhardt, Annemarie Grüneisen, geb. Hahn, Werner Keller, Gerhard Kreß, Dieter Oloff, Klaus Steyer, Helmuth Vaupel und Friedel Wernz.
Lebemeister und Lesemeister
Schließlich der Festtag selbst am 18. März 1956. Der Vetter meiner Mutter, der zweite Gemeindepfarrer Hans-Otto Jaeger, und seine aus der Schweiz stammende Frau Vilmette richteten das Festessen für die große Familie im Pfarrhaus neben der Friedenskirche aus. Unter den Paten war auch Hans Barner, der damalige Heidelberger Dekan. Der Großvater hielt die Tischrede über ein Wort des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart, dem ich meinen Vornamen verdanke: „Ein Lebemeister frommte mehr denn tausend Lesemeister.“ Das war eine Mahnung, dass ich über meinem Lesehunger nicht die täglichen Aufgaben in der Schule vergessen sollte. Ein befreundeter Nachbar, heute emeritierter Ordinarius für alte Geschichte an der Münchner Universität, besorgte mir alle gewünschten Titel aus der Universitätsbibliothek.
Karlheinz Schoener gab mir das Pauluswort „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus“ mit auf den Weg. Das hat mir immer wieder die Richtung gewiesen.
Eckhart Marggrafs Erinnerungen sind Teil des Themenschwerpunkts zur Konfirmation im neuen Gemeindebrief der Friedensgemeinde. Dies ist eine ausführlichere Fassung seines Textes. Mehr zum Thema Konfirmation im neuen Gemeindebrief – jetzt in Ihren Briefkästen. Oder in der Kirche und im Pfarramt. Oder zum pdf-download hier.