Flucht und Fluchtgeschichten in der Bibel
Die Bibel ist eine große und einzigartige Sammlung von Fluchtgeschichten. Die Bibel weiß: Seit Anbeginn sind Menschen auf der Flucht, werden vertrieben, müssen ihr Haus und ihre Heimat verlassen. Aus welchen Gründen auch immer. Gerade ihnen aber gilt Gottes besondere Zusage und Nähe. Das ist der herausfordernde Kern der jüdisch-christlichen Überlieferung: Wer auf der Flucht ist, bleibt nicht allein. Gott geht mit.
Von Lothar Bauerochse
Wer die Bibel aufschlägt, liest schon auf den allerersten Seiten von Menschen auf der Flucht. Adam und Eva! Sie sind Vertriebene. Sie müssen das Paradies verlassen, werden hineingestoßen in die Ort- und Heimatlosigkeit. Und das setzt sich fort bei den Vätergeschichten der hebräischen Bibel. Abraham verlässt seine Heimat und macht sich auf die Suche nach einem neuen Ort. Ihn treibt ein Versprechen an, nämlich dass es ein großes und segensreiches Land für ihn geben wird. Heute würde man Menschen, die ihre Zelte abbrechen und ihre Heimat verlassen mit der Sehnsucht nach einem besseren Ort für ein besseres Leben wohl Wirtschaftsflüchtlinge schimpfen. Für Abraham aber wird es gleichsam zum Kennzeichen seiner Existenz, zu einer theologisch bedeutsamen Grundaussage über sein Leben: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer“ heißt es später im Buch Deuteronomium über ihn: „Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder“. Ein Satz, der für Israel Bekenntnis-Rang hat.
Wer alles in der Bibel auf der Flucht ist: Propheten wie Jona oder Jeremia, Kain, nachdem er seinen Bruder getötet hatte, Jakob floh vor seinem Bruder Esau, David vor Saul.
Das ganze Volk Israel war auf der Flucht, der Tyrannei und Sklaverei mit knapper Not durchs Wasser entkommen, mit der Sehnsucht im Herzen nach einem Land, wo „Milch und Honig fließen“, wo es sich in Freiheit gut leben lässt. Generationen lang dauert diese Flüchtlings-Existenz. Und auf der Flucht macht dieses Volk eine theologisch wichtige Erfahrung: Dass nämlich Gott mitgeht und mit dabei ist auf dieser Flucht.
Und das Volk Israel macht diese Erfahrung immer wieder in seiner Geschichte. Vertreibung, Flucht, Exil. Prophetische Stimmen helfen den Geflohenen, diese Situation theologisch zu deuten, als wichtige Glaubenserfahrung: Gott ist nicht gebunden an das Zentrum der Macht mit seinen Heiligtümern. Sondern er ist bei denen, die sich als Fremdlinge durchschlagen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, um Wurzeln schlagen zu können, und die dort, wo es sie hin verschlägt, versuchen ein neues Leben aufzubauen. „Suchet der Stadt Bestes“ schreibt der Prophet Jeremia den Flüchtlingen.
Da verwundert es eigentlich nicht, dass auch dem Sohn Gottes die Erfahrung der Flucht gleichsam mit in die Wiege gelegt ist. Weil der neugeborene König der Juden und Heiland der Welt dem weltlichen Herrscher ein Dorn im Auge ist, müssen Josef und Maria mit dem neugeborenen Jesuskind fliehen, nach Ägypten. Gott selber ist es, der diese Flucht anstößt und auch begleitet. Im Hebräerbrief wird dieser Grundklang der menschlichen Existenz als ein Leben auf dem Weg in den bezeichnenden Satz gebracht: „Wir haben hier keine bleibende Stadt. Die zukünftige suchen wir.“
Jesus hatte es ja vorgemacht. Der selber keine wirkliche Heimat kannte, der unterwegs war zu den Menschen, die selbst heimatlos waren, an den Rand gedrängt, die ihre Wurzeln verloren hatten: Witwen und Waisen, arme Leute, Kranke und Schwache. Und das nicht einfach zufällig, sondern als theologisches Programm, als zentrale Glaubensübung: „Die Füchse haben Gruben, die Vögel haben Nester. Aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“, so überliefern die Evangelisten Matthäus und Lukas ein bekanntes Jesuswort.
Fluchterfahrungen in der Bibel sind in zwei Richtungen bedeutsam. Zum einen die tröstende Zusage für all diejenigen, die auf der Flucht sind, dass Gott sich ihnen in besonderer Weise zuwendet. Es ist aber auch bedeutsam für diejenigen, die beheimatet sind, die ein Haus haben, die Wurzeln schlagen konnten. Ihnen gilt die Aufforderung, nicht zu vergessen, dass Flucht und Vertreibung zum Menschsein dazu gehören und dass Flüchtlinge die Zuwendung und Nähe Gottes in der Zuwendung und Nähe der Menschen spüren sollen. „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande …“, so heißt es im 3. Buch Mose, „… den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.“
Theologisch ist das die Schlüsselstelle für das rechte Verständnis von Flucht und Vertreibung und den angemessenen Umgang mit Flüchtlingen im Licht der biblischen Tradition: Die Zuwendung zu den Flüchtlingen ist untrennbarer Teil der Gottesbeziehung. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat es so ausgedrückt: Gott macht sich die Sache aller Fremden zu Eigen. „Ich bin euer Gott, ich habe die Fremdlinge lieb. Also habt auch ihr die Fremdlinge lieb.“ Bedford-Strohm spricht von einer „Ethik der Einfühlung“: „Stell dir vor, du wärest in dieser Situation. Würdest du dir nicht auch eine faire Behandlung wünschen?“ In diesem Sinne ist auch das große Gleichnis vom Weltgericht im Matthäus-Evangelium zu verstehen. Der Umgang mit dem Fremden wird zum Prüfstein für den Umgang mit Christus selbst gesehen: „Ich bin ein Fremder gewesen,“ sagt Jesus, „und ihr habt mich aufgenommen.“
Deshalb, so der bayerische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm, gehört es gegenwärtig zu den wichtigsten Aufgaben von Christen und von Kirchen, daran zu erinnern, dass Flucht immer Teil war der Menschheitsgeschichte, und dass Gott sich den Entwurzelten und Heimatlosen in sehr besonderer Weise zuwendet. Diese Empathie, diese „Ethik der Einfühlung“ ist es, die Christenmenschen dazu bewegt, sich zu engagieren.
Dieser Beitrag ist entstanden als Artikel für die Zeitschrift „Gemeinde leiten“ und erscheint dort im März in der Ausgabe 2/2016.
Fotos: fotolia.de
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