„Allein die Schrift“
Rückblick auf einen etwas anderen Reformationsgottesdienst
Schon das Entrée des Gottesdienstes kündigt einen besonderen Gottesdienst an, bei dem im Grunde keiner genau weiß, was geschehen wird. Deutlich ist nur: Heute wird jeder in der Kirche seinen Teil zur Feier beitragen.
„Allein die Schrift!“ Mit diesen drei Worten werden die Gottesdienstfeiernden am Eingang der Friedenskirche begrüßt und erhalten anstelle des Gesangbuchs eine Bibel mit Einlegeblatt. Statt in den unteren Kirchenraum werden sie auf die oberen Seitenemporen geleitet. Dort herrscht zu Beginn neugierig-gespannte Ruhe.
Um 10 Uhr verstummen die Glocken. Die Orgel aber schweigt weiter. Ein einzelner Glockenschlag eröffnet die liturgische Feier. Es folgen Votum und einleitende Worte:
„In unserem Reformationsgottesdienst wollen wir Luther heute beim Wort nehmen, bei diesem Wort, und ihn „allein mit der Schrift“ bestreiten.
Sie haben am Eingang jeder und jede eine Bibel erhalten. Das Blatt mit dem Gottesdienstablauf dient als Buchzeichen. Sie dürfen Ihre Bibel jetzt an dieser Stelle aufschlagen. Wir werden dann, jede und jeder auf einer anderen Seite, aber alle gleichzeitig mit lautem Lesen aus der Schrift beginnen.“
Erst zaghaft verwundert, dann immer mutiger erklingt plötzlich die ganze Schrift auf einmal. Die 140 versammelten Stimmen lesen Zufallstexte wild durcheinander. Prophetische Unheilstexte erklingen neben dem Hohenlied der Liebe, die Bergpredigt grüßt den Schöpfungsbericht, Psalm 23 und die Offenbarung des Johannes erzählen vom selben Gott. Eindrucksvoll.
Das gemeinsame Lesen verebbt. In einem Moment der Stille werden die vier biblischen Worte aus den Fenstern der Friedenskirche gelesen. Sie sind auf Banner geschrieben und werden förmlich geerdet in den unteren Kirchenraum und dort von Konfirmanden auf Tischen drapiert.
Allein die Schrift? Nicht ganz, denn die Schrift ist nie Schrift allein, immer trifft sie auf Menschenwort, auf Dichterwort. Der Hölderlin-Text der Stufenanlage wird von drei Jugendlichen im Kanon inszeniert. Der Text nimmt zentrale biblische Worte auf: erfahren, Himmel, Mensch, Liebe, morgen.
Und das Wort setzt in Bewegung. Die Gemeinde erlebt es in eigener Bewegung. Bei wunderbarem A-Capella-Gesang – angeleitet von unserem Kirchenchorleiter Sebastian Hübner – macht sich die Gemeinde auf den Weg von den Emporen in den unteren Kirchenraum. Ein wahres Klangerlebnis.
Unten werden die Bibel auf den als aufgeklapptes Buch gestaltete Altar gelegt.
Vor der Schrift steht das Schreiben. Wir wollen nun mit den vier Schriftzitaten aus unseren Kirchenfenstern in ein Gespräch eintreten. Das soll in Form eines schweigenden Schreibgesprächs geschehen. Wir schreiben, wir tragen uns ein in die Schrift. Sie können nun einen Gedanken, eine Frage, einen Kommentar zu einem der Christusworte auf das jeweilige Band schreiben. Andere werden anderes aufschreiben. Oder lesen, was Sie geschrieben haben, und es ebenfalls kommentieren oder einen weiteren Gedanken dazu aufschreiben. So kommen wir mit der Bibel und miteinander ins Gespräch. Es soll bei diesem Gespräch aber nicht gesprochen, nicht geredet, sondern nur geschrieben und gelesen werden. Sie haben Zeit. Eine Glocke ist das Zeichen, dass wird unser Schreiben beenden. Und nun dürfen Sie sich in Bewegung setzen!
In konzentrierter Stille werden die vier biblischen Worte auf den Bannern mit den Erfahrungen, den Sehnsüchten und Hoffnungen der Gemeinde gespeist.
Nachdem angekündigten Glockenschlag führen Helfer die Banner zusammen und ziehen sie zur Kirchendecke hoch. Die Gemeinde singt derweil „Nun geh uns auf, du Morgenstern (EG 585)“. Ein gemeinsames Fürbitten und der Segen schließen diesen besonderen Gottesdienst ab.
Die Friedenskirche aber ist um einer Installation reicher. Denn der Buchaltar und das „Zelt“ bleiben für eine Woche. Und immer wieder begegnen in dieser Zeit staunend-fragende Menschen in der Kirche der Schrift.
(Eindrücke vom gestalteten Kirchenraum in unserer Fotogalerie. Zum Vergrößern klicken. Fotos: Gunnar Garleff)