Eine Predigt zum Advent
Von Pfarrer Dr. Gunnar Garleff
Warten auf den Heilsbringer
Der Hosianna-Schrei ist noch im Ohr.
Da kommt ein sanfter König auf einem Esel daher.
Nicht hoch zu Ross reitet er, sondern nah am Volk,
wie die vielen kleinen Händler und Reisenden.
Die Stadt ist voll mit Pilgern.
Sie alle haben große Erwartungen.
Das Passahfest steht kurz bevor,
die Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei.
Erinnerungen schaffen manchmal auch Sehnsüchte.
Denn die Zeiten sind alles andere als gemütlich.
Das Volk spürt die Enge der Verhältnisse.
Römische Besatzung, Armut und die Sorge um das Überleben.
Die Knechtschaft des Alltags.
Lebendig ist die Sehnsucht
nach neuer Freiheit von all den Lasten des Lebens.
Viele Propheten und Charismatiker ziehen durch das Land,
wecken mal mehr und mal weniger Hoffnungen.
Seit einigen Monaten aber erzählt man sich
von einem aus Galiläa.
Jesus von Nazareth, heißt es,
predigt, dass das Himmelreich nahegekommen sei.
Und er heilt Kranke,
hält das Mahl mit Sündern,
überschreitet immer wieder die Grenzen des Gewohnten
und verstört Pharisäer und Schriftgelehrte mit seinen Worten.
Die Stadt füllt sich langsam mit Festpilgern,
die zum Tempel eilen und auf die Märkte.
Einige wollen den Propheten aus Galiläa gesehen haben.
Es geht ein Murmeln durch die Stadt.
Gespannte Erwartungen.
Und dann plötzlich vom Ölberg her
ein immer lauteres Geschrei und Rufen.
„Hosianna“ rufen sie.
Ein Hoffnungsruf,
ein Jubelruf,
ein Verzweiflungsruf:
„Hilf Herr.“
Die Erwartungen sind riesig,
wie immer,
wenn einer auserkoren wird,
auf dem die Hoffnungen ruhen.
Dieser eine soll nun die Veränderungen bringen,
soll die Verhältnisse zu Recht rücken,
soll die Knechtschaft beenden –
die Unterdrückung durch die Römer ebenso,
wie die Unterjochung durch die Obrigkeit
und die der Wirtschaftsführer in der Stadt,
die Tempel und Fest als Gewinnchance sehen,
sich aber um die Armen und die Kranken,
um die Sorgen der Menschen nicht scheren.
Hosianna schallt es durch die Stadt.
Da kommt jetzt einer, der es ändern kann.
Er kommt geheimnisvoll
und doch hoheitlich wie ein armer Knecht daher.
Eine neue Zeit beginnt! Spannung liegt in der Luft.
Adventliches Warten heute
In der Luft unserer Stadt kann man es riechen.
Unter der Woche war ich in der Altstadt
und es duftete, qualmte, roch mir entgegen.
Eine besondere Zeit beginnt –
die Zeit der dichten, der vollen Städte.
Die Vorfreude auf das Fest treibt die Menschen in die Stadt,
führt sie zusammen.
Sie konsumieren,
sie schlemmen,
sie füllen die Kassen
und leeren die Tassen.
Advent ist die Zeit der besonderen Erwartungen.
Alles ruft nach Besinnlichkeit.
Der Hosianna-Ruf unserer Tage
ist vielleicht weniger der
nach Befreiung von unterdrückenden Herrschern und Besatzungsmächten,
aber vielleicht ein Hilfe-Ruf:
Hol mich raus aus dem Alltag der Beschäftigung,
hol mich rein in die Besinnlichkeit des Advents.
Jetzt am Beginn sind die Erwartungen riesig.
Wir öffnen die Herzenstür
und die Tore der Stadt stehen weit offen.
Und doch was wird kommen in diesen Tagen?
Wohin werden wir gehen?
Wie oft bleiben wir wirklich stehen und halten inne?
Beginnt da wirklich eine neue Zeit?
Wer ist dieser?
In Jerusalem aber kommt
der Einzug des sanften Königs
einem Erdbeben gleich.
Das Matthäusevangelium erzählt,
wie die Bewohner der Stadt aufgewühlt waren.
Es sind die Volksmassen,
die dem auf dem Esel reitenden Wanderprediger zujubeln.
Die Bewohner der Stadt aber geraten in Bestürzung und Erschütterung.
Zum Fest eine Revolution –
das muss nicht sein.
Zum Fest – zum Geschäft des Jahres -.
die Gefahr der Volksrevolte?
Bloß nicht!
Die Jerusalemer sind in Schrecken versetzt.
Das kann jetzt nicht wahr sein.
„Wer ist dieser?“, fragen sie
mit Furcht und Zittern in der Stimme.
Da kommt einer,
aber nicht alle sind begeistert
von der Neuen Zeit.
Wer sind wir? I: Die Pilger, die Armen, die Ohnmächtigen
Wir glauben,
wie die jubelnde Volksmenge genau zu wissen,
wer Jesus ist.
„Das ist der Prophet aus Nazaret in Galiläa!“ –
Der Heilsbringer,
der Sanftmütige,
der eine, der die Welt verändern kann
und ihr das bringen wird,
was das Volk, was die Menschen ersehnen.
Aber wer sind wir eigentlich dort in der Stadt auf dem Weg zum Fest?
Sind wir jene auf dem Weg,
die Pilgernden
in der Hoffnung
nun mitten in der dunklen Jahreszeit
endlich den ersehnten Zeitenwechsel zu erleben?
Sind wir mit den Pilgern unterwegs
auf der Suche nach Freiheit von täglichen Gezerre
und dem lauten Getöse, das uns medial umgibt?
Wo treibt uns die Verzweiflung,
uns, die wir im gut genährten Handschuhsheim sitzen,
das romantische Heidelberg nebenan?
Wir haben offensichtlich das Leben in Fülle.
Im persönlichen täglichen Leben geht es uns gut,
wenn wir nicht gerade von Krankheit und Beziehungskrise geplagt sind.
Und doch ich spüre allabendlich die Ohnmacht,
wenn ich die Nachrichten schaue.
Wenn ich Abend für Abend
die Bilder der Zerstörung sehe.
Die zerschossenen Häuser in Gaza,
die Weinenden in Israel.
Die Menschen auf der Flucht vor dem Terror des IS
und die Kinder in den riesigen Flüchtlingslagern in der Türkei.
Entsetzen spüre ich
angesichts der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer,
deren Katastrophe ja nur die Spitze des Eisberges sind.
Wie viele ihrer Angehörigen,
Freunde,
Bekannte,
Nachbarn
haben den Weg
in die überfüllten Boot in den Häfen
von Tunesien, Libyen und Marokko
gar nicht erst geschafft,
weil sie verdurstet und verhungern sind
auf dem langen Weg durch die Wüste.
Ohnmächtiges Staunen,
oder sollte ich sagen Sprachlosigkeit, ergreift mich,
wenn ich bedenke,
dass die EU es immer noch nicht geschafft hat
diese humanitäre Katastrophe
durch eine Änderung ihrer Asylgesetze und Abkommen
in den Griff zu bekommen.
Und noch immer gehen in unserem Land Menschen auf die Straße gegen Flüchtlingsunterkünfte in Ihren Stadtteilen.
Wer sind wir am der Einfallsstraße
von Betfage in die große Stadt Jerusalem?
Mit welchen Nöten stehen wir da?
Vielleicht ist es unsere eigene Ohnmacht,
nicht zu wissen, was wir tun können,
keine Ressourcen mehr frei zu haben,
um effektiv zu helfen.
Ein Retter,
ein sanfter, demütiger Retter wäre jetzt gut.
Einer der kommt und das Leid
und die Not lindert.
Und sei es nur unsere mediale Not,
dass wir die Bilder nicht mehr sehen wollen und können,
dass wir endlich unseren Traum vom Frieden
und unseren Sehnsucht nach Freiheit
Wirklichkeit werden lassen wollen.
Ob der auf dem Esel,
vielleicht endlich den Frieden und die Freiheit schenkt,
die uns ruhig schlafen lässt?
Hoffen können wir ja mal und mitschreien:
„Hosianna, dem Sohne Davids.“
Wer sind wir? II: Die in der Stadt, die jetzt einfach ein Fest feiern wollen
Oder nein – zu viel des Hosianna!
Vielleicht sind wir ja auch schlicht jene in der Stadt.
Wir hören den Ruf vom Tor.
Aber jetzt ist doch Advent.
Wir müssen uns auf das Fest vorbereiten.
Innere Einkehr ist von Nöten.
Da sitzen wir gerne in unseren Wohnzimmern zusammen,
essen Plätzchen,
zünden eine Kerze an und
besinnen uns auf den Kommenden,
der alles schön macht, der es behaglich macht –
oder besser auch unsere Behaglichkeit vollkommen macht.
Jetzt nur nicht schon wieder so eine Störung.
Nicht schon wieder aufbrechen müssen.
Bitte nicht!
Nein, Nein, Nein.
Adventszeit ist Hoffnungszeit,
ist Friedenszeit,
ist Feierzeit,
ist Besinnungszeit.
Gewiss, gleich nachher werden wir noch mal los müssen:
Geschenke kaufen,
durch die Stadt rennen,
Vorbereitungen auf das Fest machen.
Aber bitte ohne Aufruhr, ohne Demos.
Immer diese ganzen Bettelbriefe,
tagein tagaus treffen sie ein.
Hier und da etwas spenden, ok,
das ist gut,
beruhigt das Gewissen,
hilft auch tatsächlich irgendwie.
Hauptsache es ist die adventliche Ruhe nicht gestört.
Immer dieses Geschrei.
Muss das sein?
Lasst uns lieber auf den Weihnachtsmarkt gehen,
gemeinsam Glühwein trinken,
uns aneinander freuen
und dann vielleicht noch die eine oder Adventsfeier mitnehmen,
damit wir dann unseren Frieden finden,
wenn er kommt, der Friedefürst.
Wer sind wir? III: Lasst uns Christi Esel sein
Wer sind wir im Angesicht des Kommenden.
Wer wollen wir sein im Advent?
Gewiss sind wir immer beides:
die Ohnmächtigen gegen die Weltverhältnisse,
unser Handeln greift doch immer zu kurz,
und ja irgendwie hat doch auch die andere Seite in uns ein Recht,
die sich nach Ruhe sehnt,
die sich nach Besinnlichkeit und Einkehr sehnt
in dieser hektischen Zeit.
Wer also sind wir am Beginn der Adventszeit?
Als ich mich gestern so durch mein Bücherregal las,
fand ich ein altes Gebet von Dom Helder Camara (1909-1999),
einem Befreiungstheologen und ehemaligen brasilianischen Erzbischof.
Er betete einmal inspiriert durch die Einzugsgeschichte:
„Lass mich dein Esel sein Christus.
Lass mich einer sein, der dich zu den Menschen trägt.“
Dom Helder Camara
Lass mich dein Esel sein Christus?
Ich weiß, selbst nicht,
ob ich unbedingt Esel sein will.
Aber der Gedanken von Dom Helder Camara,
ja diese merkwürdig humorvolle Verrücktheit,
zu beten,
ein Esel zu sein,
die hat Charme.
Esel gelten zwar mitunter als störrisch.
Sie gelten vielleicht auch als dumm und faul.
Und doch es ist der Esel, der die Last des Herrn trägt,
durch den Jesus als der Retter erkannt wird.

Der Esel ist nah dran am Kommenden.
Und darin treffen sich die Sehnsüchte dann vielleicht.
Der Advent kündet vom Kommen Gottes.
Gott will den Menschen nah sein in Christus.
Der Retter reitet eben nicht hoch zu Ross in die Stadt –
abgehoben und herrschaftlich,
sondern geerdet auf einem Esel,
dem Tier des kleinen Mannes.
Aber eben auch auf jenem Tier,
das nicht geopfert werden musste.
Der Esel steht für die Nähe Gottes zu den Menschen,
das gibt der Adventszeit,
das gibt der Christusgeschehen seine besondere Bedeutung.
Christus braucht uns!
Es reicht nicht aus,
nur von Adventsbesinnung zu Adventsbesinnung zu eilen.
Es reicht nicht,
vier Wochen lang zu ruhen,
zu hoffen, zu singen, zu beten.
Nein, Christus erdet sich nicht durch unsere innere Einkehr,
sondern durch unsere Menschennähe.
Gottes Kommen verheißt seine Nähe zu den Menschen.
Lasst uns einander Nähe und Wärme schenken.
Ein wenig Sanftmut und Demut im Umgang miteinander.
Bringen wir Christus zu den Menschen
durch unsere Hoffnung,
durch unsere Worte, die aufrichten,
mit unseren Händen, die helfen,
mit unseren Augen, die hinsehen,
mit unseren Ohren, die zuhören.
Lasst uns Christi Esel werden
und den Heiland zur Krippe tragen,
damit Menschen wieder neu hoffen können,
dass aus dem kleinen Kind in der Krippe,
der Frieden wächst
und wir nicht aufhören anzufangen,
den Frieden zu verbreiten,
die Liebe zu schenken,
die Hoffnung zu säen.
Dass wir nicht aufhören zu reden und zu handeln,
wo andere stumm bleiben.
Lasst uns einmal wagen Christi Esel zu sein
und darin Christi Nähe im Advent zu spüren.
Gott will den Menschen nahe kommen,
aber er kommt anders als du denkst –
auf einem Esel.
Durch dich?
Amen.