Das Gegenteil zum Begehren
Poetisch-theologisches Lob der Schönheit
Von Gotthard Fuchs
Die französische Mystikerin Simone Weil hatte recht: „Der Schönheit der Welt keine Aufmerksamkeit zu schenken, ist vielleicht ein so großes Verbrechen der Undankbarkeit, dass es die Strafe des Unglücks verdient.“ Schön ist „das, was man nicht verändern will“ und „wollen kann“.
„Nicht zu fassen“, sagen wir dann, und halten inne. Ein schönes Gesicht, der Sonnenaufgang am Meer oder im Hochgebirge, Musik vom späten Schubert, die Skyline von Singapur oder schlicht das Erwachen ins Licht hier und jetzt – „der Blick und das Warten, das ist die Haltung, die dem Schönen entspricht. Solange man denken, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht.“

Es ist das Gegenteil zum Begehren: „Eine Frucht, die man anschaut, ohne die Hand nach ihr auszustrecken“. In Eduard Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“ heißt es am Schluss lapidar: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ Es spricht für sich und hat seine eigene Beweiskraft. Es braucht und schenkt Kontemplation, Innehalten und Schauen. Vom Schönen geht eine Macht aus, die in Bann schlägt und gehörigen Abstand braucht.
Natürlich sagen wir auch: „schön essen gehen“, „sich schön machen“. Man spricht von der „Ästhetisierung der Lebenswelt“. Alles soll stimmig und gut gebaut sein, auch das Dissonante und Fremde wird einbezogen in die schöne Konstruktion der Wirklichkeit. Dabei gehören das Schöne und das Erhabene doch zusammen. Es geht um Erfahrungen, die uns überwältigen, die hinreißen und sprachlos machen. „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“, heißt es in Rainer Maria Rilkes erster „Duineser Elegie“. Da kommt eine resonanzstarke Macht ins Spiel, die von früh an ins Religiöse hinüberspielt.

In der geglückten Gestalt, in der stimmigen Erfahrung, in der ergreifenden Begegnung ist jenes Größere da, das zum Namen Gottes hinführt und gehört. Auch und gerade im vermeintlich Hässlichen: Seit dem christlichen Blick auf den unschuldig gemarterten Mitmenschen am Kreuz gehört das in jede Ästhetik, die der Wirklichkeit standhalten will. Kann nicht das Gesicht eines uralten oder sterbenden Menschen schöner sein als alles, was ästhetisch marktgängig ist und modisch? Das Schöne enthält ein Versprechen, es verweist auf Anderes und Höheres, im Endlichen scheint Unendliches durch und hervor.
„Sehr gut, sehr schön“ ist die Welt trotz allem. Nicht zufällig beginnt damit die ganze Bibel. Gott ist der „Erfinder der Schönheit“, heißt es später (Weish 13,3). Kein Papst der letzten Jahrhunderte spricht so oft von der Schönheit der Welt und des Evangeliums wie der jetzige. Was christlicher Gottesglaube ist, könne nur auf dem „Weg der Schönheit“ vermittelt werden: einladend, lockend, eben anziehend (Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“).
Warum also ist „Schönheit“ ein Fremdwort in den Kirchen geworden? Warum werden Lust und Freude kaum mehr mit dem Christlichen verbunden? „Kein Ding ist hier noch dort, das schöner ist als ich, / Weil Gott, die Schönheit selbst, sich hat verliebt in mich.“ So unterstreicht der Dichter Angelus Silesius das typisch christliche Erwählungsbewusstsein. Das freilich öffnet den Blick auch für das Hässliche in der Welt. Die Theologin Dorothee Sölle schreibt: „Wenn sich aber das schöne versteckt hält / im suff und im unförmigen Körper / in einer trägen bewegung / in einem unempfindlichen herzen / muss ich es suchen gehen // Die gewissheit das schöne zu finden / in allem was lebt / nennen wir seit alters gott // Gott ist überall / sie lockt uns durch schönheit zu sich / wir finden gott / in jedem Menschen.“
Gotthard Fuchs ist katholischer Priester und theologischer Autor,
der sich v.a. mit christlicher Spiritualität und Mystik beschäftigt.
Er war lange Jahre Direktor der Katholischen Akademie Rabanus-Maurus in Wiesbaden.
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