Ein ungewöhnlicher Gottesdienst mit „Wüstenerfahrungen“
in der neuen Friedenskirche
Die neue Friedenskirche: leer. Stühle an einigen Orten im Kirchenraum zu bizarren Hügeln aufgetürmt, bis unter die Bögen der Seitengewölbe.
So sah es aus am vergangenen Sonntagnachmittag zum Beginn des ersten von insgesamt drei Gottesdiensten, die besondere Raumerfahrungen im renovierten Kirchenraum der Friedensgemeinde ermöglichen sollen. Alles anders. Schon am Eingang. Die Gottesdienstbesucher werden gebeten, sich oben auf der Empore zu versammeln, unter dem großen Glasfenster des guten Hirten. In einem Umschlag erhält jede und jeder eine Karte, darauf ein Satz der evangelischen Theologin Dorothee Sölle. Gleichsam das Motto für diesen Gottesdienst:
„Leer werden – es ist sehr schön, das zu lernen. So wie Jesus manchmal allein sein musste und in die Wüste ging, um zu fasten und zu beten, so können und sollen auch wir zu uns selber kommen und uns nicht verzehren lassen. Dann aber werden wir wieder zurückgehen in eine wirkliche Gemeinschaft der Glaubenden und darin arbeiten und leben.“ (aus: D. Sölle, Erinnert euch an den Regenbogen.)
Geheimnisvolle und eigentümlich karge Klänge der Orgel, intoniert von Kantor Michael Braatz, erfüllten den Kirchenraum, schufen eine Atmosphäre existentieller Intensität. Johann Sebastian Bachs selten gehörtes Stück „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ führte die Gottesdienstbesucher aus ihrer eigenen Welt hinein in die Wüste.
Zu allen Jahrhunderten sind Menschen in die Wüste gegangen. Die jüdischen Propheten. Die ersten Mönche des Christentums. Schriftsteller der Neuzeit. Und immer wieder wird die Wüste zum „Ort der Erkenntnis“. Am Beginn der Fastenzeit konnten die Gottesdienstbesucher deshalb Erfahrungen von Wüste und Leere im eigenen Leben nachspüren. Karstiger Boden erfordert oft besondere Lebensanstrengungen. Es ist wie ein Lebensgesetz, formuliert von dem libyschen Schriftsteller Ibrahim Al Koni:
Gott sandte den Menschen hinaus in die Wüste, damit er zur Erkenntnis gelange.
Das gilt auch für den Propheten Elia, dessen Geschichte im ersten Buch der Könige in der hebräischen Bibel berichtet wird. Er flieht in die Wüste. Dort ereilt ihn ein tiefer Lebenszweifel. Aber gerade dort macht er die wunderbare Erfahrung einer lebensrettenden Hilfe. Zweimal fordert ihn eine Stimme auf, sich nicht aufzugeben. „Steh auf! Iss!“ Geröstetes Brot und ein Krug Wasser stehen bereit.
So war es auch am Sonntag in diesem besonderen Gottesdienst in der Friedenskirche. Die Gottesdienstgemeinde wanderte in die Wüste, in den leeren Kirchenraum, lagerte sich dort auf dem Boden des Seitenschiffes, zwischen den karstigen Stuhlhügeln. Zweimal hörte sie die Aufforderung: esst und trinkt! Geröstetes Brot und Krüge voll Wasser standen bereit. Eine heilsame Lebensstärkung auf dem Weg. Der Percussionist Thorsten Gellings erfüllte den Kirchenraum mit wüstenhaft-karstigen Klängen. Die Gemeinde ermutigte sich singend:
Gott, du bist die Quelle des Lebens,
von deinem Wasser trinken wir,
denn wir dürsten stets nach dir.
Texte des französischen Schriftstellers Antoine de Saint Exupery fassten die Wüstenerfahrung in berührende Worte:
„…denn ich lag mit ausgebreiteten Armen rücklings auf einem Dünengrat und sah ins Sterngewimmel. … Ich fand keine Wurzel, an die ich mich klammern konnte, und kein Dach und kein Zweig zwischen diesem Abgrund und mir. … Aber ich fiel nicht. Ich fühlte mich vom Kopf bis zu den Zehen mit unzählbaren Banden der Erde verknüpft. … Ich war verloren in der Wüste und furchtbar bedroht, nackt zwischen Sand und Sternen, fern von meinem Leben einem Übermaß an Stille ausgeliefert. … Und dennoch durfte ich entdecken, wie reich an Träumen ich war…“
Der hebräische Prophet Elia wird von seinem Gott auf den Berg Horeb geschickt. Und so stieg auch die Friedensgemeinde auf einen Berg. Den Berg der neuen Stufenanlage. Begleitet von Peter Handkes Schilderung einer Wanderung im karstigen Gebirge:
„Obwohl die Ebene unten noch nah ist, herrscht auf dem Plateau eine Stille, als seist du schon weit draußen auf dem Meer. … So still ist es, dass du das Rascheln hörst, wenn ein Falter mit seinen Flügeln, einer fallenden Blüte nachjagend, den Grund streift. … Stunden, Tage, Jahre später stehst du vor einem weissblühenden wilden Kirschbaum, in der einen Blüte eine Biene, in der zweiten eine Hummel, in der dritten eine Fliege, in der vierten ein paar Ameisen, in der fünften ein Käfer, auf der sechsten ein Schmetterling. … Nicht aus der Welt wirst du gewesen sein, sondern einmal ganz hiesig.“

Der Berg wird für Elia zum Ort der Begegnung mit Gott. Gott erscheint ihm nicht mit Getöse und Feuersbrunst, sondern in der Stille. In einem „feinen leichten Säuseln“.
Was löst die Erfahrung eines wüstenhaft leeren Kirchenraums aus? Die Gottesdienstbesucher tauschten sich darüber in einem „Bibliolog“ aus. Die Wüste ist tatsächlich ein Ort zum Bleiben. Es drängt einen gar nicht, diesen vorgeblich „lebensfeindlichen Ort“ zu fliehen. Die Wüste: Ein Ort der Stille. Ein Ort zum Innehalten. Ein Ort, um zu sich zu kommen.
Und dann wird Elia, der Prophet, von Gott wieder zurückgeschickt. Wieder zurück in die Wüste, wieder zurück an seinen Ort in der Welt. Also brachen auch die Gottesdienstbesucher wieder auf, hinunter vom Berg, in den Kirchenraum, den Ort der Wüste, und von dort, als Gesegnete, wieder hinaus in die Welt, in die Stadt, den Stadtteil, das zu Hause.
Aber dies nicht ohne ein gutes Wort für den Weg. Beim Hinuntergehen von der Stufenanlage konnte jede und jeder das Zitat von Friedrich Hölderlin „abschreiten“, das in die Stufen eingeprägt ist. Und sich ansprechen lassen von einem Gedanken, einem Satz, vielleicht einem einzelnen Wort:
und nur der liebe gesetz
gilt von hier an bis zum himmel
viel hat von morgen erfahren der mensch
bald aber sind wir gesang
(Den nächsten Gottesdienst in dieser Reihe „kreuz.weg.wandel“ feiert die Evangelische Friedensgemeinde am Gründonnerstag. Das Thema: „Feiern im Zweifel“. Mahlerfahrung als Quelle gemeinschaftlichen Lebens.
Am 2. April, abends um 19 Uhr in der neuen Friedenskirche.)
Ein sehr eindringlicher Gottesdienst, der Mut macht zu hoffentlich noch sehr viel mehr gottesdienstlichem Experimentieren.